Das Fräulein Löw

Er sitzt in seinem Stammlokal und sinniert über so wichtige Dinge wie den Ernst des Lebens oder ob er sich noch ein Bier bringen lassen soll.

«Dasch gopferdammi e geile Matsch gsi» dröhnt’s vom Nebentisch, begleitet von regem Kopfnicken. Sein Interesse am Fussball hält sich in Grenzen, was aber nachhallt, ist das «Gopferdammi». Er hört das Fräulein Löw aus seiner Primarschulzeit, auf das «Fräulein» legte sie trotz ihrer mindestens 60 Jahre grössten Wert.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert hat sie ihm und den anderen Knirpsen in seiner Klasse klar gemacht, was «Gopferdammi» bedeutet und dass sie sich darauf einstellen müssen, dass der Liebe Gott ihrer Aufforderung nachkommt. Er hat fast alles vergessen, was das Fräulein Löw einst gesagt hat, nur eben dies nicht.

«Morn muess i gopferdammi frieh zum Näscht us» bekommt er nun von einem anderen Tisch zu hören. Er holt sich die Zeitung und beginnt zu lesen.

«Isch do no frey?»

 

Er nickt, schaut aber nicht auf. «Christoph, sag däne beide Männer, ass si nid solle flueche.» Nun schaut er doch und erkennt seine Religionslehrerin, die ihm gegenüber Platz genommen hat. Was tut sie hier? Das Fräulein Löw müsste seit mindestens 40 Jahren tot sein.

Das Ganze ist ihm peinlich, er verzichtet auf eine Antwort und nimmt sich den Lokalteil vor. Nach ein paar Minuten hebt er verstohlen den Blick: Das Fräulein Löw ist weg. Er entscheidet sich für ein weiteres Bier. Täuscht er sich oder riecht er einen Hauch von Kölnisch Wasser?

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