Post von Neuroth

Er sitzt in seinem Stammlokal und öffnet einen Brief, den er eigentlich mit ins Büro nehmen wollte, aber in seiner Westentasche vergessen hat. Der Brief wirkt diskret, sieht auf den ersten Blick aus, wie seine Kreditkartenabrechnungen.

Er ist ziemlich sicher, dass er in den vergangenen Wochen finanziell nicht über die Stränge geschlagen hat, reisst mutig den Umschlag auf und erkennt auf Anhieb, dass das Schreiben nicht von Mastercard stammt.

«Guten Tag Herr Klein, Vogelgezwitscher und Blätterrauschen wecken neue Lebensgeister in uns.»

Welchem unbeholfenen Romantiker, so fragt er sich, ist bei diesem Satz der Pegasus durchgegangen. Und liest weiter: «Durch eine Hörminderung sind die Geräusche der Natur nicht mehr so gut wahrzunehmen.» Aha.

«Mist», denkt er Sekundenbruchteile später: Er ist persönlich angeschrieben worden. Von einem Jürgen Leister, der ihn zum Gratishörtest ins nächste Neuroth-Hörcenter einlädt. «Willst Du ein Bier?», fragt die Kellnerin. Um ein Haar hätte er gesagt: «Schrei mich nicht an, noch höre ich gut.»

Aber er verzichtet auf den billigen Gag und ärgert sich. Darüber, dass er in der Kartei eines der grössten Schweizer Adressenhändlers wegen seines Alters als möglicherweise an Hörgeräten interessiert eingestuft wird. Und dass die Neuroth-Gruppe seine Daten gekauft hat. Und dass er nicht weiss, wann er erstmals Post von Kukident, einer Seniorenresidenz oder einem Hersteller von Inkontinenzwindeln erhält.

Das Bier ist, wie immer in seinem Stammlokal, perfekt gekühlt. «Alter», sagt er zu sich, «alt bist Du erst, wenn Du das Bier temperieren lässt.»

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